Re: [OT] Dual-Booting, wer brauchts noch?
Hallo,
Am 05.12.2010 14:15, schrieb Jochen Schulz:
mal rein interessehalber: wer von Euch braucht auf seinem "Hauptsystem"
noch Windows?
[X] Hier. Ich bin Programmierer in einer Firma, in der halt nur unter
Windows entwickelt wird, und ab und zu will man halt auch mal was zu
Hause ausprobieren können.
Ich frage, weil ich den Eindruck habe, dass immer weniger Leute
dual-booten, beziehungsweise ein gelegentlich genutztes Windows nur noch
auf einem Zweitsystem parallel installiert haben.
Woher hast Du den Eindruck?
Ich selbst habe Linux erstmals mit Debian potato benutzt und da war es
unvorstellbar, auf Windows zu verzichten. Gar nicht so sehr, weil ich
bestimmte Anwendungen gebraucht hätte (war damals Schüler/Zivi), sondern
weil das System wegen Hardwaresupport oder eigener Unfähigkeit immer mal
wieder unbrauchbar wurde. Während des Studiums (woody, sarge) wurde das
deutlich besser, aber da gab es dann noch mit Laptop-spezifischen
Funktionen Probleme (Suspend, WLAN, VPN-Zeugs), so dass ich im Alltag
ohne Windows häufiger mal aufgeschmissen gewesen wäre.
Ich wurde vor etwa 8 Jahren ins kalte Wasser geworfen; mein Rechner zu
Hause ging kaputt, und als Student hatte ich kein Geld, mir sofort einen
neuen zu kaufen. Also habe ich halt für ein halbes Jahr die BSD-Rechner
im Uni-Pool nutzen müssen. Danach (nach einigen Startschwierigkeiten)
war für mich klar: Kein Windows mehr! Seitdem habe ich diverse
Linux-Derivate genutzt, erst SuSE, dann Gentoo und die letzten 6 Jahre
dann Debian. Sowohl auf meinem Heim-Server, als auch auf meinem
Desktop-Rechner (Desktop: Testing oder Unstable, Server: immer nur
Stable). Probleme wg. nicht unterstützter Hardware habe ich eigentlich
fast nie gehabt.
Vor etwa einem Jahr habe ich dann entschieden, dass mir die Zeit für
Unstable auf dem Desktop-Rechner zu schade ist (tägliche Updates,
Bugreports schreiben, Mailing-Listen verfolgen). Da mir Stable
grundsätzlich zu alt ist, habe ich Ubuntu (9.10?) installiert. Und ich
war begeistert. Alles funktionierte wie ich es haben wollte. Ohne
manuelles Hinterherbasteln. Und es sah auch noch verdammt gut aus.
Die Ernüchterung kam dann mit der nächsten Ubuntu-Version (10.x?).
Boot-Zeit: Unglaublich langsam. Suspend to Disk: Noch langsamer. Es
funktionierte zwar noch fast alles, aber ~4 Minuten, um den Rechner in
den Ruhezustand zu schicken, ist einfach indiskutabel. Ich habe dann
nochmal Testing ausprobiert, aber der erste Eindruck nach der
Installation war so was von verheerend, dass ich einfach genug von Linux
als Desktop-BS hatte; Alt-Tab zum Wechseln zwischen Anwendungen ging
nicht mehr, WLan nur mit viel Googlen und ausprobieren, und um die
vergniesgnaddelten Umlaute im GrUB-Bootloader habe ich mich gar nicht
mehr gekümmert. Und die Umlaute in GrUB habe nicht ich ins Spiel
gebracht, sondern waren Teil der Standard-Installation.
Gerade der letzte Punkt hat mich echt angekotzt; seitdem ich GrUB
verwende, waren Umlaute nie ein Problem. Aber in der neuesten, besten,
und sowieso total tollsten Version gehen sie auf einmal nicht mehr.
Nicht, dass Umlaute so wichtig wären, aber das Problem war für mich
bezeichnend für Linux: Es geht zwar fast alles, aber man darf sich nicht
wundern, wenn auf einmal etwas nicht mehr geht, was davor kein Problem
war. Und wenn sowas auftritt, darf man sich erst einmal selber auf die
Suche machen, wieso das Problem auftritt. Und dazu habe ich einfach
keine Lust und Zeit mehr.
Und an dem Punkt habe ich mich bewusst entschieden, erst einmal nur noch
Windows auf dem Desktop zu verwenden. Keine leichte Entscheidung; am
Anfang steht das Löhnen für die Windows-Lizenz. Dann muss man einen
Ersatz finden für die ganzen Programme, an die man sich unter Linux
gewöhnt hat, und für die es keine Windows-Version gibt. abcde wird z.B.
schmerzhaft vermisst, und Thunderbird ist kein Ersatz für mutt-patched.
Einiges bekommt man zwar unter cygwin zum Laufen, aber da ist oft auch
sehr viel Gebastel und Herumprobieren gefragt. Und schließlich muss man
sich daran gewöhnen, das einzelne Dinge unter Windows einfach anders laufen.
Natürlich hat Windows immense Nachteile. Etwas so elegantes wie Postfix
oder Cyrus scheint es nicht zu geben. Keine zentrale Fehlerdatenbank.
Fehlerberichte von anderen Windows-Usern sind hart an der
Legastheniker-Grenze. Keine Möglichkeit, das System zur Fehlersuche bis
ins Kleinste auseinanderzunehmen. Untransparente Sicherheitsupdates.
Mehrere Desktops nur mit Hängen und Würgen.
Aber die Vorteile haben für mich einfach überwogen: Nach dem Aufwachen
aus S2R/S2D funktioniert das WLan sofort (und nicht erst nach 30 sek).
Das Grundsystem bleibt über sehr lange Zeit stabil (@work benutzen wir
XP, das jetzt ~9 Jahre alt ist). Grundfunktionen wie Alt-Tab sind nicht
von der Tageslaune des Desktop-Managers abhängig. Hervorragende
Dokumentation. Ein Sicherheitskonzept, was sich nicht auf den
Einzelrechner beschränkt. Ich kann einfach eine Datei aus dem Explorer
ins Mail-Fenster ziehen, um es an die Mail anzuhängen. Und das alles
out-of-the-box und ohne Basteln, wie ich es für recht lange Zeit gewohnt
war.
Um zur Ursprungsfrage zurückzukommen: Ja, ich brauche Dual-Booting noch.
Aber nur dann, wenn ich an die Grenzen von Windows stoße und denke, Fuck
it, ich will nicht lange rumbasteln, unter Linux bekomme ich das mit ein
paar Zeilen in der bash hin. Aber das kommt immer seltener vor.
Auf meinem Home-Server und dem Server bei Strato bleibt Debian Stable
natürlich erste Wahl. Und daran wird sich so schnell auch nichts ändern.
Und deshalb erlaube ich es mir auch, auf dieser Mailing-Liste angemeldet
zu bleiben :-)
Bis dann,
Wolf
--
We're the grown-ups now.
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